Wie organisiert man progressive Mehrheiten in Berlin
November 23rd, 2025
Blick auf die Abgeordnetenhauswahlen 2026
Das Berliner Dilemma
Im September 2026 wählt Berlin ein neues Abgeordnetenhaus. Bündnis 90/Die Grünen, die noch vor der letzten Bundestagswahl vorsichtig auf das Rote Rathaus schielten, finden sich heute in einer strategischen Zange wieder: Von rechts drängen eine rechtspopulistische AfD und eine CDU, die unter Kai Wegner in weiten Teilen kaum noch von der AfD zu unterscheiden ist. Von links feiert Die Linke nach ihrer Bundestagswahl-Renaissance eine fulminante Wiederauferstehung.
Die Linke beherrscht dabei das progressive Playbook mit bemerkenswerter Routine: Ihre Mietwucher-App erreichte binnen Monaten 220.000 Nutzer*innen, generierte 50.000 Verdachtsfälle und führte zum ersten rechtskräftigen Bußgeldbescheid über 50.000 Euro – ein Lehrstück in digitaler Mobilisierung. Während Die Linke konkrete Tools liefert, die ihre Kernanliegen nicht nur unterstützen, sondern multiplizieren, erschöpfen sich die Grünen in abstrakten Zukunftsversprechen („Zusammen wird’s Zukunft“) und Wohlfühl-Allgemeinplätzen („bezahlbare Wohnungen, sichere Mobilität, starke Demokratie“).
Dieser Kontrast ist auch Symptom einer innerparteilichen Zerrissenheit. Für den linken Flügel der Grünen beweist Habecks bundespolitisches Scheitern, dass echte Mehrheiten nur mit traditionell linken Themen zu organisieren seien – der „Drang zur Mitte“ habe sich als Irrweg erwiesen. Doch genau diese Dichotomie „Links versus Mitte“ führt in die Irre. Die eigentliche Frage lautet nicht, wo man sich positioniert, sondern wie man im digitalen Zeitalter progressive Mehrheiten organisiert. Und paradoxerweise wären die Grünen – als einzige Partei, die sowohl öko-konservative als auch links-progressive Milieus vereint – prädestiniert für eine Synthese. Ihr Bekenntnis zur evidenzbasierten Politik böte die Chance, jenseits überholter Links-Rechts-Schemata eine neue progressive Erzählung zu entwickeln. Wenn sie denn die Lektionen erfolgreicher progressiver Kampagnen der letzten 15 Jahre beherzigen würden.
Progressive Erfolge der letzten 15 Jahre – Die Muster
Obama 2008: Die digitale Revolution
Die Kampagne von Barack Obama im Jahr 2008 war die erste, die massiv von einer Onlinebewegung getragen wurde. Die eigene Plattform MyBarackObama.com schuf eine Alternative zur späteren Facebook-Dominanz. Die Zahlen der Mobilisierung waren beispiellos: 13 Millionen E-Mail-Adressen, drei Millionen Spender und eine Million freiwillige Helfer*innen stellten alle vorangegangenen Kampagnen in den Schatten. Die Formel für diesen Erfolg bestand aus einer Verbindung von digitalen Tools mit klassischem Community Organizing. Daraus entstand eine nie dagewesene Massenmobilisierung. Das Narrativ „Yes We Can" symbolisierte Ermächtigung statt Ohnmacht und brannte sich ins kollektive Gedächtnis.
Aus Obamas Kampagne lernen wir: Technologie ohne eine gesellschaftliche Bewegung ist wertlos, eine Bewegung ohne Technologie und digitale Verlängerung ist im 21. Jahrhundert obsolet.
Podemos 2014-2024: Populistische Wende
Podemos (gegründet Januar 2014) war eine der markantesten politischen Bewegungen Spaniens im Kontext von Wirtschaftskrise, Massenprotesten der „Indignados“ und wachsendem Populismus. Sie entwickelte sich von einer schnellen Aufbruchs- und Protestkraft zu einer eingebundenen Regierungspartei – und anschließend zu einer Partei in der Krise. Der Kern des Erfolgs bildete eine Achsenverschiebung mit bewusst populistischer Rhetorik: Der Gegensatz „Volk“ vs. „Elite" („la gente“ vs. „la casta“) wurde zentral. Podemos setzte auf Basispartizipation (z.B. bei Listenaufstellungen) und nutzte intensiv soziale Medien sowie Online-Abstimmungen. Innerhalb weniger Monate führte Podemos in Umfragen und erreichte 2015 beachtliche 20,7 Prozent.
So rasant wie ihr Aufstieg war jedoch auch ihr Fall. Die Partei entpuppte sich als Wahlkampfmaschine ohne reale Verankerung. Die Hyperpersonalisierung um Pablo Iglesias statt echter Basisdemokratie wurde zum Hindernis. Dazu kamen interne Machtkämpfe nach dem Winner-takes-all-Prinzip und der Streit um die zukünftige Ausrichtung – gemäßigt oder weiterhin stark links-progressiv mit populistischem Einschlag. Zudem sah sich die Partei im Widerspruch gefangen, spanisch-patriotisch oder regional-plurinational zu agieren.
Aus diesem Beispiel lernen wir: Funktionierender Populismus braucht Struktur, und digitale Demokratie braucht (nach wie vor) eine analoge Ergänzung.
AOC ab 2018: Die Authentizitäts-Revolution
Alexandria Ocasio-Cortez, die ehemalige Barkeeperin aus der Bronx, hat politische Kommunikation neu definiert. Ihre Instagram Stories direkt aus dem Kongress, Kochabende mit politischen Erklärungen und Gaming-Sessions auf Twitch erreichen Millionen. AOC macht aus vermeintlichen Schwächen Stärken: Wenn sie beim Kochen etwas anbrennen lässt, während sie den Green New Deal erklärt, schafft das mehr Verbindung als jede perfekte Pressekonferenz. Der Green New Deal wurde nicht durch Policy-Papers populär, sondern durch 60-Sekunden-Videos auf Instagram. Ihr „Tax the Rich“-Kleid bei der Met Gala 2021 generierte mehr Aufmerksamkeit und Diskussion als hundert Parlamentsreden.
Aus AOCs Erfolg lernen wir: Authentizität schlägt Professionalität, und ein virales Meme transportiert Botschaften effektiver als traditionelle Kommunikationsstrategien.
Portugal 2015-2022: Die leise Kompetenz
Die portugiesische Linkskoalition „Geringonça“ (wörtlich: wackelige Sache) bewies zwischen 2015 und 2022, dass progressive Politik funktioniert – ohne großes Getöse. António Costa verzichtete auf revolutionäre Rhetorik und setzte stattdessen um: Der Mindestlohn stieg um 25 Prozent, die Wirtschaft wuchs stärker als in Deutschland, die EU-Haushaltsregeln wurden eingehalten. Die internationale Anerkennung („Portugal als Vorbild“) wurde zur besten Wahlkampfmunition.
Aus Portugal lernen wir: Konkrete Regierungserfolge sind die beste Kampagne – vorausgesetzt, sie kommen bei den Menschen spürbar an.
Fridays for Future ab 2018: Die moralische Autorität
„Unser Haus brennt“ – mit dieser simplen Metapher mobilisierte Greta Thunberg eine globale Bewegung. FFF nutzte den Generationenkonflikt produktiv: Die moralische Autorität der Jugend gegen die Untätigkeit der Erwachsenen. Der Schulstreik als Regelbruch wurde zur legitimen Protestform. Die Bewegung berief sich konsequent auf wissenschaftliche Fakten (IPCC-Berichte) als unpolitische Autorität. Das Mantra „1,5 Grad“ wurde zur globalen Chiffre für Klimagerechtigkeit.
Aus FFF lernen wir: Moralische Klarheit kombiniert mit einfachen Aktionsformen kann zur Massenbewegung werden – wenn die Dringlichkeit spürbar ist.
Sanders-Bewegung 2016/2020: Die Kraft der Wiederholung
Bernie Sanders erzählt seit 40 Jahren dieselbe Geschichte: „Millionaires and Billionaires“ beuten die arbeitende Bevölkerung aus. Diese Konsistenz wurde zur Marke. Seine Kampagne finanzierte sich durch Kleinstspenden – durchschnittlich 27 Dollar – was selbst zum politischen Statement wurde. Sanders machte abstrakte Forderungen konkret: „$15 Minimum Wage“, „Medicare for All“ – Zahlen und Konzepte, die haften bleiben. Selbst seine zerzausten Haare und der immer gleiche Anzug wurden zum authentischen Markenzeichen. Aus Sanders lernen wir: Konstante Wiederholung konkreter Forderungen fördert Einprägsamkeit. Eine Zahl sagt mehr als tausend Positionspapiere.
Lakoff-Theorie trifft auf Praxis
Das Standardwerk von George Lakoff „Don’t Think Of An Elephant“ ist zum progressiven Ratgeber geworden. Darin stellt Lakoff Thesen auf, die sich anhand der zitierten Beispiele belegen lassen. (Positives) Framing funktioniert – das sieht man am Beispiel „Gleichstellung in der Ehe vs. Homoehe“. Werte verfangen eher als politische Ausformulierung – „Hoffnung/Veränderung“ zündet eher, als die Aufschlüsselung der dafür notwendigen Details. An Sanders und Fridays for Future sehen wir, dass Wiederholung wirkt (Minimum Wage, 1,5 Grad).
Der eigentliche Durchbruch digitaler Instrumente mit und rund um Social Media erfolgte jedoch nach der Veröffentlichung Lakoffs Buch. Wenn wir seine Thesen jetzt weiterdenken, können wir festhalten:
- Frames müssen „Meme-fähig“ sein und sich rasch über populäre Netzwerke wie Instagram oder TikTok verbreiten
- Authentizität kann man nicht „faken“. AOCs Kochfehler, Sanders Frisur, Habecks offen zugegebene Fehler und Dilemmata sind einige Beispiele hierfür.
- Progressiver Populismus funktioniert, wenn er nach oben gerichtet ist (siehe Die Linke, Tax the Rich, etc.). Gleichzeitig stärken solche Narrative die Ränder und verdecken gesamtgesellschaftliche Ansätze.
- Moderne Progressive müssen multiple Frames gleichzeitig orchestrieren. AOC verbindet Klasse, Generation und Identität in einer Botschaft. Die Klimabewegung verknüpft Generationengerechtigkeit mit sozialer Frage. Erfolgreiche Kampagnen sprechen nicht mehr nur eine Zielgruppe an, sondern weben verschiedene Perspektiven zu einem gemeinsamen Narrativ – was Lakoff noch als einzelne Master-Frames dachte, wird heute zur vielstimmigen Symphonie.
Berlin 2025: Kampagnen-Analyse
Grüner Berlin: Abstraktion statt Attraktion
Wie Bettina Jarasch, Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus treffend formuliert: Den Grünen bläst der Wind ins Gesicht. Kommend aus einer Phase, in der die Grünen Umfragen in Berlin anführten, wird nun versucht, nicht weiter Boden an Die Linke und die Mitte zu verlieren. Die Schwäche der Bundespartei färbt hierbei merklich auf Berlin ab und die Berliner Grünen gehen verunsichert, defensiv und mit gesunkenem Anspruch in den Wahlkampf 2026. Werner Graf und Bettina Jarasch bilden das Spitzenduo für die Berliner Abgeordnetenhauswahl 2026, wobei Jarasch definitiv das bekanntere Gesicht der beiden, aber Werner Graf der Spitzenkandidat ist. Hier hat sich der linke Flügel durchgesetzt, denn auch aufgrund des Debakels bei der letzten Bundestagswahl sind realpolitische Grüne geschwächt. Die Landesvorsitzenden Nina Stahr (Realo-Flügel) und Philmon Ghirmai (linker Flügel) wurden gerade wiedergewählt, doch keine*r der beiden wird als breites „Zugpferd“ wahrgenommen. Hier sitzen zwei Vorsitzende im Sattel, die ihre notwendige Machtsymbiose weiter nutzen, um ihre Position als Vorsitzende zu zementieren.
Offiziell sprechen die Grünen von einem „Wahlkampf um die Zukunft“ und von einem „Aufbruch 2026“. Die Duo-Seite inszeniert es als Angebot, den „schwarz-roten Senat“ abzulösen und Graf als „progressiven Bürgermeister“ zu etablieren. Das ist zwar thematisch sauber aber hinter großen Worten wie „Zukunft“, „Aufbruch“ und „Progressivität“ stecken wenig konkrete Gewinner für den Alltag der Berlinerinnen und Berliner.
Die „Team Berlin“-Seite definiert drei Themenblöcke:
- „Gerechter Klimaschutz“
- Mehr Bäume und Grünflächen
- Sichere Radwege
- Pünktliche Busse und Bahnen
- Bezahlbare, saubere Energie
- „Ein Berlin für alle“
- Bezahlbarer Wohnraum
- Mittel für soziale Projekte & Kultur
- Faire Arbeit, Kampf gegen Armut
- „Berlin: vielfältig und frei“
- Schutz von Vielfalt & Kulturszene
- Unterstützung für Geflüchtete
- Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat
Das sind klassische grüne Themen und sie sind inhaltlich konsistent, jedoch sprachlich sehr breit und normativ. In einem taz-Interview benennen Jarasch und Graf relativ deutlich, woran sie das Mietenthema aufhängen wollen: sie sprechen von einer „Lizenz zum Vermieten“ und einem „Gesetz für bezahlbare Mieten“ als zentrale grüne Antworten auf die Wohnungsnot. Das könnte eine Art „Signature Policy“ sein, ist aber juristisch-technisch benannt und klingt eher nach Paragraf denn nach Alltag. Kommunikativ ist dies nicht heruntergebrochen auf ein einfaches Bild (kein Profit ohne faire Miete, „Mietführerschein“, o.ä.). Auch wenn Schwarz-Rot als Hauptgegner im Wahlkampf benannt wird, sitzen die Grünen de facto zwischen einer lauten Linken, die bei der letzten Wahl in wichtigen Kerngebieten gewonnen hat und einer starken CDU, die als „Ordnung & Funktionieren“-Partei wahrgenommen wird.
a) Abstrakte Sprache („krisenfest“, „weltoffen“, „Gegen Rückschritt“)
Die offizielle Kampagnenrhetorik bestätigt diesen Eindruck. „Wahlkampf um die Zukunft“, „Aufbruch 2026“, „eine bessere Zukunft gestalten“ – das sind große, aber letztlich sehr abstrakte Formeln. Sie markieren ein normatives Koordinatensystem, sagen aber wenig darüber, was sich für die einzelne Mieterin in Neukölln, den Pendler in Spandau oder die Solo-Selbstständige in Friedrichshain konkret verändert. Wertewörter wie „weltoffen“, „vielfältig“, „frei“ und „gerecht“ durchziehen nahezu alle Texte. Konkrete, merkfähige Chiffren für Alltagserfahrungen – Miete, Kita-Platz, Wartezeit auf den Bus, Sicherheit im Kiez – treten in den Hintergrund oder bleiben als lose Stichwortliste hängen. Zwar tauchen einzelne Bilder auf („mehr Bäume“, „sichere Radwege“, „pünktliche Busse“), sie werden aber nicht als zugespitzte Projekte erzählt, sondern in einem allgemeinen Werte-Rahmen abgelegt. Die Sprache ist moralisch klar, aber erzählerisch dünn: viel Haltung, wenig Körperlichkeit.
b) „Team ohne Konflikt“
Die Inszenierung des Spitzenduos folgt derselben Logik der Glättung. Graf und Jarasch werden als „Team für Berlin“ präsentiert, getragen von „Leidenschaft, Mut und Entschlossenheit“ und natürlich „gemeinsam mit euch“. Auf Jaraschs Seite wird das Verbindende betont: Konflikte an einen Tisch holen, Aufbruch und Verlässlichkeit, Mut und Erfahrung – klassische Integrationsrhetorik. Im taz-Interview reagieren beide auf die heikle Kandidat*innenfrage beinahe synchron, was den Eindruck eines politisch sauber abgestimmten, aber eben auch stromlinienförmigen Duos verstärkt. Gleichzeitig wissen alle Beteiligten um die realen Spannungen: Unzufriedenheit mit der Duo-Wahl, ein eher mageres Delegiertenvotum, die strategische Schieflage zwischen linkem Kurs und verlorener Mitte. Diese Bruchlinien werden jedoch nicht produktiv erzählt – etwa im Sinne eines bewusst gesetzten Spannungsbogens zwischen „radikal-sozialem Werner“ und „regierungserfahren-pragmatischer Bettina“. Stattdessen dominiert das Bild eines Teams ohne erkennbare Rollen und ohne Reibungspunkte. Es gibt wenig emotionale Projektionsfläche. Die Formel „Team ohne Konflikt“ beschreibt damit weniger eine Stärke als ein Attraktivitätsdefizit.
c) Keine Signature Policy / kein „$15“-Moment
Potenzial für eine Signature Policy wäre durchaus vorhanden. Die Idee einer „Lizenz zum Vermieten“ und eines „Gesetzes für bezahlbare Mieten“ könnte – inhaltlich richtig zugespitzt – der zentrale Anker für das Thema Wohnen sein. In der jetzigen Form bleibt das jedoch technokratisch: Die Begriffe klingen nach Paragrafenteil im Koalitionsvertrag, nicht nach einem Versprechen, das man sich merkt und weitererzählt. Es fehlt eine einfache, wiederholbare Formel – eine Kennzahl, ein Bild, eine konkrete Zusage („X-Euro-Mietendeckel“, „Y Tage bis zum Kita-Platz“, „Z % mehr Busse im 5-Minuten-Takt“), die den Wahlkampf strukturiert. Ähnlich im Bereich Klima und Verkehr: Radwege, ÖPNV-Ausbau, Energieversorgung, mehr Grün – all das taucht auf, aber nichts davon wird zur ikonischen Maßnahme erhoben, um die sich die Erzählung ordnet. Es gibt Ansätze, aber keinen einzigen Vorschlag, der sich als „Das steht für die Berliner Grünen“ in das kollektive Gedächtnis einbrennt.
d) Defensive Position („Gegen Rückschritt“)
Auch die strategische Grundhaltung ist eher defensiv als gestaltend. Nach außen definieren sich die Grünen stark über das, was sie verhindern wollen: die Rückabwicklung von Verkehrswende und Klimaschutz durch Schwarz-Rot, das Abräumen progressiver Errungenschaften, den weiteren Rechtsruck. Nach innen, im Milieu, dominiert die Angst, weitere Bezirke an die Linke zu verlieren und gleichzeitig in der politischen Mitte zu erodieren. In der Summe entsteht ein Framing, das ungefähr lautet: „Wir müssen verhindern, dass es noch schlimmer wird“, nicht „Wenn wir gewinnen, wird konkret dieses Bessere Wirklichkeit“. Damit sind die Grünen weniger Versprechens- als Schadensbegrenzungspartei. Der Wahlkampf wirkt eher wie ein Projekt der Stabilisierung und Defensive – verständlich aus der Lage heraus, aber wenig anschlussfähig für Menschen, die auf ein positives Zukunftsbild anspringen.
e) Keine digitale Innovation sichtbar
Besonders sichtbar wird das Attraktivitätsproblem im digitalen Raum. Während Parteien an den Rändern – Linke, BSW, AfD – auf TikTok und Instagram aggressiv Reichweiten aufbauen und ihre Milieus mit klaren, emotionalen Narrativen bespielen, wirken die Grünen eher wie eine gut sortierte, aber leise Markenpräsenz: erkennbar, aber selten prägend im Feed. Die eigene Basis thematisiert das offen, etwa wenn auf Parteitagen gefragt wird, wie man gegenüber der linken Konkurrenz auf Social Media überhaupt noch auffallen will. Die Beauftragung einer neuen Wahlkampfagentur ist indirekt das Eingeständnis, dass man ein Marketing- und Inszenierungsproblem hat. Sichtbar ist bislang aber keine konkrete digitale Signatur: kein stringentes Creator-Format, kein mutiges TikTok-Narrativ, keine erkennbaren Experimente, die das Selbstbild als progressive Hauptstadtpartei ins Digitale übersetzen. Haltung ist vorhanden, aber sie materialisiert sich nicht in zeitgemäßen Formaten.
Fazit: „Abstraktion ohne Attraktion“
In der Summe bestätigt sich das Bild: Die Berliner Grünen haben kein inhaltliches Programmproblem, sondern ein Übersetzungsproblem. Sie arbeiten mit hohen Abstraktionen („gerecht, vielfältig, frei, progressiv“), mit großen Zukunftsvokabeln und einer sehr normativen Sprache, bieten aber zu wenig spezifische, merkfähige Zusagen. Auf der Attraktionsseite fehlen ein zugespitztes Führungsteam mit erzählbarem Spannungsbogen, eine klare Signature Policy, ein offensiver Gestaltungsanspruch und eine digitale Präsenz, die diesem Anspruch entspricht. „Abstraktion ohne Attraktion“ beschreibt insofern nicht nur den Kommunikationsstil, sondern die strategische Gesamtlage der Berliner Grünen auf dem Weg in den Wahlkampf 2026.
Die Linke Berlin: Der (Digitale) Klassenkampf
Die Berliner Linke zieht mit ihrer neuen Spitzenkandidatin Elif Eralp in den Wahlkampf 2026 und setzt dabei auf maximale Fokussierung. Eralp, Juristin mit ausgewiesener Expertise in Antidiskriminierungs- und Migrationspolitik, verbindet biografische Glaubwürdigkeit mit dem zentralen Erzählstrang der Linken: dem Kampf gegen Mietenwahnsinn und Ausbeutung im Wohnungsmarkt. Ihre Botschaft „Diese Stadt gehört uns allen und nicht den Spekulanten“ markiert den programmatischen Kern der Kampagne. Während die Grünen in großen Zukunftsformeln sprechen, präsentiert die Linke konkrete Werkzeuge: die Mietwucher-App, Zehntausende dokumentierte Verdachtsfälle, Bußgelder gegen Vermieter – alles Elemente eines politischen Stils, der Sichtbarkeit über Zuspitzung erzeugt. Die Linke schafft es, ein massives Alltagsproblem in ein einfaches Wirkungsversprechen zu übersetzen: Wir finden deine überteuerte Miete und zwingen Vermieter*innen zur Verantwortung.
Die Mietwucher-App ermöglicht eine Tool-basierte Mobilisierung: Aus konkreten Zahlen (50.000 Verdachtsfälle, 200 Mio. € Ersparnis) entstehen klare Feindbilder – die „dreisten Vermieter“, die „Mietmafia Vonovia“. Ein erster rechtskräftiger Bußgeldbescheid gegen Mietpreisüberhöhung unterstreicht die Wirksamkeit des Modells. Dieser Erfolg ist skalierbar, auch über Berlin hinaus. Aus einem digitalen Tool wird konkrete Hilfe, aus konkreter Hilfe wird Mobilisierung, und aus Mobilisierung entsteht wiederum neuer Erfolg. Die Formel ist einfach, verständlich und hochgradig anschlussfähig.
Doch die Stärke dieser Zuspitzung ist zugleich strukturelle Schwäche. Die Linke in Berlin wird zunehmend zur Ein-Themen-Partei: Wohnen dominiert alles. Verwaltung, Verkehr, Schulen, Digitalisierung, Sicherheit, Stadtentwicklung – viele urbane Schlüsselthemen bleiben kommunikativ unterbelichtet oder werden nur im Schatten des Mietkonflikts mitgeführt. Auch die Spitzenkandidatin selbst ist bislang kaum stadtweit bekannt; ihre Rolle wirkt stärker als personifizierte Zuspitzung des Wohnteils denn als breites Führungsangebot für eine komplexe Metropole. Hinzu kommt ein Problem, das im Kampagnenmodus gern überstrahlt wird: Die Linke ist hervorragend darin, Missstände aufzudecken und Konflikte zu benennen, bleibt aber vage, sobald es um Umsetzung, Verwaltungskompetenz und Regierungsfähigkeit geht. Der Modus ist „Anklage“, nicht „Architektur“.
Der Berliner Wahlkampf der Linken ist damit präziser, konfliktgeladener und alltagsnäher als der der Grünen, aber auch deutlich schmaler. Die Partei mobilisiert über Empörung und konkrete Hilfe, nicht über ein umfassendes Stadtversprechen. Genau hier entsteht ein strategischer Angriffs- und Abgrenzungspunkt: Die Linke punktet im Sichtbaren, verliert aber in der Breite; sie hat ein klares Thema, aber kaum Stadtarchitektur; sie erzeugt Druck, aber wenig Zukunftsbilder. In der Gesamtschau steht damit: Zuspitzung statt Breite – eine klare, aber verletzliche Positionierung, die zahlreiche offene Flanken offenbart.
Synthese: Das progressive Playbook
Aus der Analyse beider Parteien lässt sich ein verbindendes Muster ableiten: Progressive Politik gewinnt dort, wo digitale Werkzeuge, konkrete Alltagsverbesserungen und eine glaubwürdige emotionale Ansprache ineinandergreifen. Erfolgreiche progressive Bewegungen – von Sanders bis AOC, von Obama bis zur Berliner Linken – arbeiten mit einer Formel, die erstaunlich stabil ist:
Digitale Innovation × authentische Kommunikation × konkrete Forderungen × emotionale Mobilisierung = progressive Mehrheit.
Daraus ergeben sich fünf Grundprinzipien.
- Eine klare Zahl, ein einfaches Versprechen. Sanders hatte seine „$15“, die Linke ihren Mietendeckel – memorierbar, mobilisierend, wiederholbar.
- Digital First, aber nicht Digital Only. Obama gewann online, aber hielt gleichzeitig die aktivste Haustürkampagne seiner Zeit ab – dies hat Die Linke im letzten Bundestagswahlkampf erfolgreich kopiert.
- Authentizität schlägt Perfektion – AOC gewann nicht mit strategisch polierten Videos, sondern mit improvisierten Instagram-Lives aus ihrer Küche.
- Populismus progressiv wenden – nicht nach unten treten, sondern nach oben richten, gegen Machtmissbrauch, nicht gegen Minderheiten.
- Bewegung und Macht versöhnen – der progressive Erfolg entsteht nicht entweder im Protest oder in der Regierung, sondern im produktiven Zusammenspiel beider Modi.
Warnung aus dem Scheitern von Podemos
Die spanische Podemos-Bewegung liefert dafür eine notwendige Gegenfolie. Ihr schneller Höhenflug zeigt, wie weit man mit digitaler Mobilisierung und radikalen Forderungen kommen kann – ihr ebenso schneller Niedergang zeigt die strukturellen Fallstricke.
- Mediale Sichtbarkeit ersetzt keine organisatorische Basis. Podemos blieb eine Wahlkampfmaschine ohne stabile Verankerung und verlor ihre Verwurzelung in Nachbarschaften und sozialen Bewegungen.
- Hyperpersonalisierung zerstört kollektive Handlungsfähigkeit – der Führungszirkel verdrängte interne Debatte und erzeugte Abspaltungen. Vergleich mit den Grünen: Habeck war sowohl Zugpferd als auch Achillesferse im letzten Wahlkampf.
- Die Illusion des Digitalen – digitale Partizipationsplattformen ersetzten keine echte, analoge Debatte und führten zu Frustration.
- Winner-takes-all-Logik provozierte Machtkämpfe statt Kompromisse.
Hinzu kommen strategische Widersprüche: ein Spannungsverhältnis zwischen nationalem Populismus und plurinationaler Realität, ein Protest-Frame, der in der Regierung unhaltbar wurde, und ein zerstörerisches Missverhältnis zwischen Geschwindigkeit und Nachhaltigkeit. Podemos gewann schnell – und zerschellte an der eigenen Unreife.
Konkrete Empfehlungen für die Berliner Grünen
Sofortmaßnahmen (erste 100 Tage)
Die Grünen brauchen einen sichtbaren, sofort spürbaren Schritt aus der Abstraktion heraus. Möglich wäre eine „Berlin macht’s vor“-App: ein digitales Werkzeug, das unmittelbar Alltagshilfe schafft. Etwa mit Klima-Bonus-Rechner, Kita-Finder und Radweg-Melder als grüne Antwort auf die Mietwucher-App der Linken. Gleichzeitig liefert eine funktionierende App, dass die Grünen „Digitales“ können. Hinzu kommen drei Signature Policies, die einfach, klar und wiederholbar sind:
- Ein „29-Euro-Berlin-Ticket“, günstiger als das Deutschlandticket und politisch klar verortet.
- Ein messbares, radikales sozialpolitisches Projekt wie „Null Obdachlose bis 2030“.
- Ein symbolstarkes, identitätsstiftendes Projekt wie „Tempelhofer Feld bleibt“.
Und: Werner Graf braucht eine öffentliche, digitale Handschrift. Kein poliertes Image, sondern authentische Kurzformate – TikTok-Alltag, U-Bahn-Gespräche, Küchenmomente. Nicht perfekt, aber politisch menschlich.
Mittelfristige Strategie
Strategisch müssen die Grünen drei Bewegungen gleichzeitig leisten: nach links, indem sie beim Mieten-Thema mit der Linken kooperieren, ohne deren Zuspitzung zu kopieren; nach unten, mit einer realen „100-Kieze-Tour“, die urbane Vielfalt ernst nimmt; und nach vorne, mit einer positiven Vision für Berlin als KI-Hauptstadt und Klimatech-Hub.
Die Frame-Architektur könnte folgen: Masterframe „Berlin macht’s vor“, Gegner nicht die Linke, sondern eine „Beton-Lobby“ und eine Verwaltung, die zu lange im Analogen stecken blieb. Das Wir-Narrativ: die „progressive Berliner Eigenart“, selbstbewusst und lokal verankert.
Podemos-Lehren operationalisiert
Die Lehre aus Podemos ist nicht: „Weniger Progressivität“, sondern: „Mehr Struktur, weniger Illusion.“ Die Grünen müssen zuerst ihre Basisarbeit modernisieren, dann die mediale Mobilisierung hochfahren. Sie sollten echte Debattenräume schaffen – analog und digital – statt nur symbolische Beteiligung. Keine Winner-takes-all-Logik, sondern kluge Bündnispolitik. Und eine klare Identität: Berlin als progressive Stadt, mit eigener Logik – nicht als abgeleiteter Arm der Bundespartei.
Produktive Debattenkultur
Der vielleicht unterschätzteste Faktor progressiver Erfolgsrezepte ist eine politische Kultur, die Konflikte nicht eskaliert, sondern kanalisiert. Die Berliner Grünen organisieren sich derzeit vor allem in Signal-Gruppen – ein digitaler Raum, der laut Forschung systematisch zu Empörung, moralischer Aufladung und Lagerbildung führt. Emotionalisierte Themen wie die Gelbhaar-Debatte zeigen, dass Messenger-Dynamiken deliberative Politik nahezu unmöglich machen. Erfolgreiche progressive Bewegungen setzen daher auf strukturierte, moderierte und verlangsamte Formate: Debattenforen statt Chat-Kaskaden, synchrone Gespräche statt asynchroner Empörung, Konflikt als Sachfrage statt Identitätsangriff. Eine produktive Debattenkultur ist kein Nice-to-have, sondern die Grundlage von Organisationskraft und innerer Stabilität – und damit ein Kernelement progressiver Mehrheiten.
Zentrale These
Die Berliner Grünen scheitern nicht an ihrer vermeintlichen Position zwischen Links und Mitte, sondern an der Ignoranz gegenüber dem progressiven Erfolgsrezept. Ihnen fehlen derzeit konkrete digitale Tools (wie der Linken ihre App), authentische Momente (wie AOC sie verkörpert), memorierbare Policies (wie Sanders $15) und produktiver Konflikt (wie Podemos ihn in seiner Aufbauphase nutzte). Und: Es fehlt eine strukturelle Basis, die nicht nur Wahlkampf, sondern Stadtpolitik trägt. Die Antwort lautet weder „mehr Mitte“ noch „mehr links“ – sondern: mehr Konkretheit, mehr digital-analoge Werkzeuge, mehr Konflikt nach oben, mehr Authentizität und mehr lokale Verankerung.
Schlussfolgerung
Die Grünen müssen ein falsches Dilemma überwinden. Die Frage lautet nicht „links oder Mitte“, sondern: Kann Berlin eine progressive Avantgarde sein oder bleibt es zwischen Appellen und Abstraktionen hängen?
Die Formel liegt vor: digitale Tools, konkrete Utopien, authentischer Konflikt.
Der Beweis läuft bereits: Die Linke zeigt, wie aus einer App politische Schlagkraft entsteht. Die Grünen hätten die Ressourcen, sie nutzen sie aber nicht. 2026 wird entscheiden, ob Berlin eine Wahl zwischen Abstraktion und Aktion bekommt. Es ist ein historisches Fenster – und die Frage lautet: Lernt die Partei rechtzeitig?
Quellenverzeichnis
Primärquellen und Dokumente
- Obama Campaign 2008: Ganz, Marshall (2009): Why David Sometimes Wins: Leadership, Organization, and Strategy in the California Farm Worker Movement. Oxford University Press.
- Podemos: Iglesias, Pablo (2015): Politics in a Time of Crisis: Podemos and the Future of Democracy in Europe. Verso Books.
- Podemos-Analyse: Zelik, Raul (2024): „Podemos – Aufstieg und Fall einer linken Hoffnung“. In: WOZ Die Wochenzeitung, Nr. 2/2024.
- AOC: „Knock Down the House“ (2019), Dokumentarfilm von Rachel Lears.
- Sanders: Sanders, Bernie (2016): Our Revolution: A Future to Believe In. Thomas Dunne Books.
- Portugal: Costa, António (2019): EU Policy Analysis „Portugal’s Contraption“.
- FFF: IPCC Reports 2018-2023; Thunberg, Greta (2019): No One Is Too Small to Make a Difference. Penguin.
Theoretische Grundlagen
- Lakoff, George (2004/2014): Don’t Think of an Elephant! Know Your Values and Frame the Debate. Chelsea Green Publishing.
- Mouffe, Chantal (2018): For a Left Populism. Verso Books.
- Mouffe, Chantal & Errejón, Íñigo (2016): Podemos: In the Name of the People. Lawrence & Wishart.
- Castells, Manuel (2015): Networks of Outrage and Hope: Social Movements in the Internet Age. Polity Press.
- Fraser, Nancy (2019): The Old is Dying and the New Cannot Be Born. Verso Books.
- Crenshaw, Kimberlé (1989): "Demarginalizing the Intersection of Race and Sex". University of Chicago Legal Forum.
Berlin-spezifische Quellen
- Mietwucher-Kampagne: Die Linke Berlin (2025): "Dreiste Vermieter stoppen". Online: dielinke.berlin
- Mietwucher-App Daten: Die Linke Bundestagsfraktion (November 2024): Pressemitteilung zur Mietwucher-Kampagne.
- Grüne Kampagne: Grüne Berlin (2025): „Wahlkampf um die Zukunft“. Online: gruene.berlin
- Jarasch/Graf: Interview in taz (November 2025); Kampagnenseite: bettina-jarasch.com/zusammenwirdszukunft
- Wahlanalysen: Forsa Berlin-Trend (2025); Infratest dimap Wahlumfragen Berlin.
Weitere akademische Analysen
- Harvard Kennedy School (2021): „The AOC Effect: Digital Democracy in Practice“.
- Harvard Kennedy School (2022): Ardern, Jacinda: „Leadership in Crisis“ (Speech).
- Irish Marriage Equality (2016): „The Road to 2015: Lessons from Ireland’s Yes Campaign“.